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Eine Krankheit.

Sven Kindervater, 22 Jahre, Student, Gemeindevertreter

Wenn ich in letzter Zeit im Jugendklub „Blaupause" zugegen bin, ist es nicht selten leer. Ein paar wenige Gäste sitzen am Tisch am Eingang und essen Nudeln, ich grüße die Mitarbeiterin. Ich frage, wie es so geht, ob das Essen auch schmeckt und so weiter, aber beide Seiten wissen doch, dass es eigentlich um was ganz anderes geht. Ich komme nicht umhin, spreche es an. Früher sei der Laden hier gerammelte voll gewesen, meint Toni. Aber dann kam diese riesen Hausordnung. „Wahrscheinlich wäre ich damals dann für Furzen schon bestraft worden, alles war auf einmal verboten". Spaßverbot sei da quasi eingezogen, da war dann Schluss. Man versuchte sich zumindest im Sommer unbeobachtete Plätze zu erkämpfen, zunächst vorm Rathaus, dann am neuen Bahnhof. Aber überall war man unerwünscht.

Kameras, Platzordnungen, Sicherheitskräfte – das sei die Antwort der Gemeinde gewesen. Einen Sportplatz gäbe es ja auch nicht, der am Schäferplatz habe zwar jetzt offen, aber das sei ja ein furchtbarer Acker, eine Krankheit. Und auf dem Gelände des Jugendklubs? „Da war doch dieser Gemeindevertreter, der hat geklagt. Seitdem darf außerhalb des Hauses nichts mehr gemacht werden, die Basketballanlage wurde abgerissen, Fußball verboten."

Die Geschichte der Jugendpolitik in Neuenhagen ist ein einziges Trauerspiel.

Ein Trauerspiel von Unwissenheit, Schnellschüssen, Arroganz und Desinteresse. Niemand hört den Jugendlichen richtig zu, niemand fragt nach, niemand weiß um ihre Vorstellungen. Man bekämpft die Probleme, man löst die Ursachen nicht.

Kein Sportplatz, kein Treffpunkt zum Bierchen trinken, zum Unbeobachtet sein, zum Freundin kennenlernen, keine Freiräume für Kreativität, Spontanität, Kunst und Kultur. Einzig ein unterbesetzter Jugendklub fernab vom Schuss mit strengen Regeln und Lärmschutzaufl agen, Öffnungszeiten bis um sechs, ein überwachter Bahnhof und ein kaputter Bolzplatz. Ist es für die Politik so schwer zu erkennen, wo die Probleme liegen?

Jugendliche brauchen Raum, Raum um sich auszuprobieren, sich selber und untereinander kennenzulernen, Fehler zu machen, Interessen zu entdecken. Eine Generation muss sich kennen, auch nach der Schule gemeinsame Erlebnisse haben.

Aber auch Neuenhagen braucht seine Jugendlichen. Sie sind die Zukunft. Sie sind die Arbeitskräfte, die Ladenbesitzer, die Bauhofmitarbeiter, die Bürgermeister und die Eltern von morgen. Ohne sie stirbt Neuenhagen den langsamen Tod der Demografie. Neuenhagen kann es sich nicht leisten, seiner Jugend ständig das Gefühl zu geben, unerwünscht zu sein. Sie müssen hier aufwachsen können, aber auch hier ihre ersten Schritte auf eigenen Beinen machen können. Sie müssen an die Gemeindepolitik herangeführt und schrittweise in Verantwortung gebracht werden. Angst um den eigenen Posten, Angst vor dem Unvorhersehbaren, Angst vor dem Neuen – alles das ist völlig fehl am Platz. Neuenhagen wird sich immer im Wandel befinden, nichts bleibt wie es ist, auch bei uns nicht. Wenn eine Generation einen anderen Weg einschlagen will, ist das ihr gutes Recht. Immerhin lebt sie von uns allen noch am längsten hier im Ort.

Hoffentlich. Die jetzt nötigen Antworten der Politik sind übersichtlich. Schnell müssen Wege gefunden werden, die Jugendlichen in den Entscheidungsprozess mit einzubinden. Es müssen ihre Wege sein, mit Regeln, welche sie sich selber geben. Gemeinsam muss das Modell der Blaupause, ihr Konzept und ihr Standort, überdacht und den realen Erfordernissen angepasst werden. Jugendliche und junge Familien müssen hier kostengünstig ihre ersten Wohnungen beziehen können. Ohne Umschweife müssen Plätze für Fußball, Basketball und andere Sportarten außerhalb von Vereinen und sonstigen Verpfl ichtungen geschaffen werden.

Es bedarf kostenloser Räumlichkeiten für Arbeitsgruppen wie Foto, Grafikdesign, Theater oder Politik. Proben und Auftrittsmöglichkeiten gehören selbstverständlich ebenso dazu. Und natürlich müssen Jugendliche an all diesen Orten auch Fehler machen dürfen. Die Freiräume der Jugendliche müssen ihre Freiräume sein und nicht Räume des bürgerlich-verstaubten Anstands, welchen man ihnen künstlich aufzwingt.

Jedes Verbot bettelt doch förmlich darum, gebrochen zu werden, diese Weisheit ist doch nicht neu. Um Jugendliche an ihre Grenzen zu gewöhnen, darf man ihnen Falsches nicht verbieten, sondern muss es ihnen erklären und es sie selbst ausprobieren lassen! Aufklärung vor Strafe!

Nicht zuletzt ist eine verfehlte Jugendpolitik auch Nährboden für Rechtsextremismus. Dieser entsteht bekanntlich da, wo soziale Vernachlässigung es zulässt.

Jugendliche müssen das Gefühl haben, Teil der Gesellschaft zu sein, sich das Leben hier leisten und es ihrem eigenen Nachwuchs irgendwann mal antun zu können, ebenfalls ihre Jugend hier zu verbringen. Diese drei Dinge sind gegenwärtig nicht gegeben, ein rasches, gemeinsames Handeln ist daher unumgänglich.

 


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Lektüretipp

Wir empfehlen Euch die Lektüre  von " Das kurze Gedächtnis - Wie es wurde, was es ist - Splitter aus der deutschen Nachkriegsgeschichte" Gedanken von Kerstin Kaiser, Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau www.dielinke-neuenhagen.de/fileadmin/neuenhagen/Gedaechtnis.pdf