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Drei Stunden Arbeit am Tag werden genügen

AUS DEM DENKKÄFIG AUSBRECHEN
Für eine Wirtschaftsordnung, die jedem seine Würde lässt - ein Plädoyer auf dem Erfurter Sozialforum

Am Wochenende schloss das Erfurter Sozialforum mit der Ankündigung, wer den neoliberalen Umbau vorantreibe, müsse "mit massivem Widerstand rechnen". Zu einem der zahlreichen Podien des ersten Treffens dieser Art in Deutschland war auch die Schriftstellerin Daniela Dahn geladen. Auf ihrer Erklärung beruht der hier abgedruckte Artikel.

Es sind überaus erfreuliche Umstände, die uns vor überaus unerfreuliche Probleme stellen: Die Massenarbeitslosigkeit wird scheinbar deshalb ausgelöst, weil wir weniger schuften müssen, freizügiger reisen dürfen und länger leben können. In Wirklichkeit wird sie ausgelöst, weil wir unfähig sind, diese emanzipatorischen Errungenschaften in gesellschaftlichen Fortschritt, in Glück für alle zu verwandeln.

Als sich die Sozialdemokratie 1891 hier in Erfurt ihr Programm gab, leuchtete ein solcher Fortschritt als Fernziel durch. Und der einflussreiche Ökonom Keynes prophezeite schon vor 80 Jahren: Drei Stunden Arbeit am Tag werden genügen. Stattdessen befinden sich hierzulande mehr als sieben Millionen Menschen eben nicht in emanzipierter, sondern in trostloser Lage, sie haben gar keine Arbeit. Die Gesellschaft ist gespalten in anerkannte Leistungsträger und alimentierte Überflüssige. Die EU hat eine Armutsgrenze von 700 Euro Nettoeinkommen im Monat ermittelt - Hartz IV-Empfänger bekommen die Hälfte und bleiben auch mit Zuschüssen unter dem Existenzminimum. Es sind arme Menschen. Das Einzige, was bei den so genannten Reformen funktioniert, ist die Einschüchterung. Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist eine dauerhafte, perfekte Repression, der Verlust der Arbeit schließlich eine Gewalterfahrung.

Das DIW hat vor wenigen Tagen eine Studie vorgestellt, die belegt, dass die Armut im Osten Deutschlands weiter gewachsen ist. (Im Westen ist sie konstant geblieben, was auch nicht tröstlich ist.) Das Durchschnittseinkommen ist auf den Stand von 1994 zurückgefallen und beträgt wieder nur 80 Prozent des Westniveaus. Zieht man die Zuschüsse aus dem Staatshaushalt ab, beträgt es sogar nur 63 Prozent, was der niedrigste Wert seit dem Mauerfall ist. Aufhorchen lässt eine Nebenbemerkung des Institutes: Die gestiegene Ungleichheit sei nicht mehr mit dem bisherigen Umverteilungssystem über Steuern und Transfers korrigierbar. Der einzige Ausweg sei der Abbau der Arbeitslosigkeit.

Für diese epochale Aufgabe hat niemand Patentrezepte, zweifellos auch ich nicht. Was die etablierten Parteien als Therapie gegen Massenarbeitslosigkeit empfehlen, mutet allerdings an, als wolle eine Mücke einem sich im Fieberwahn wälzenden Elefanten kalte Wadenwickel machen. Seit 20 Jahren versagt diese Quacksalberei. Steuergeschenke an die Wirtschaft haben keine Arbeitsplätze gebracht, im Gegenteil: zwei Drittel der Gewinne werden in Rationalisierung, also in Arbeitsplatzabbau investiert.

Manche Politiker und Gewerkschafter, wie der Wirtschaftsminister oder der DGB-Vorsitzende, stehlen sich gar ganz aus der Verantwortung, indem sie den Irrtum verbreiten, die Schaffung von Arbeitsplätzen sei Sache der Unternehmen. Doch nach herrschender Gesetzeslage müssen und dürfen Konzerne und Betriebe gar nichts, außer rentabel sein. Bei Strafe der feindlichen Übernahme oder einfach der Insolvenz verbieten sich gemeinnützige Erwägungen. Als zweitgrößter Deutscher vereinnahmt, kann Marx ja kaum noch aufschrecken: "Die räuberischen Strukturgesetze des Kapitals lassen es räuberisch sein, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird."

Die zur Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen zu zwingende Gesellschaft besteht aus Parteien, Regierungen, Parlamentariern, Gewerkschaftern, Bürgerbewegungen. Es ist ihre Aufgabe, Verhältnisse zu schaffen, unter denen alle eine sinnvolles Dasein und ein sorgenfreies Auskommen haben. Deshalb sind unter den Wortführern beim ersten Sozialforum in Deutschland gute Namen wie attac, Rosa-Luxemburg-Stiftung, GEW, IG Metall und ver.di - als größte Einzelgewerkschaft der Welt persönlich vertreten durch ihren engagierten Vorsitzenden Frank Bsirske. Und auch die neugierige Aufmerksamkeit für die als Gast geladene Linkspartei kann nicht überraschen. Es gibt Konstellationen, in denen die Gesellschaft aus der Opposition nachhaltiger verändert werden kann als aus der Regierung. Nur wenn der neoliberalen Einheitspartei im Parlament künftig hörbar widersprochen wird, können überholte Gewissheiten erschüttert werden.

Etwa der Aberglaube, wonach immer noch Wachstum der Garant für die benötigten Arbeitsplätze wäre. In Aufbauphasen mag die Konjunktur die Arbeitslosigkeit gemildert haben, abgeschafft werden konnte sie nie. Kein Ökonom vermag heute überzeugend vorherzusagen, wie viel Leistungssteigerung denn wie viel Arbeitsplätze bringen würde. Eine Schätzung geht davon aus, dass ein jährliches (und unerreichbares) Wachstum von drei Prozent 600.000 Arbeitsplätze schaffen könnte. Angenommen dies sei real, dann bräuchten wir, um alle sieben Millionen Menschen ohne Arbeit zu beschäftigen, ein jährliches Wachstum von 35 Prozent. Wie würden wohl wir und die Natur danach aussehen? Wo doch schon bei drei Prozent Zuwachs die nächste Generation doppelt so viel konsumieren müsste, wie wir heute. Und die übernächste das Vierfache ... Wozu? Die sich beschleunigende Steigerung ist eine Existenzbedingung des Kapitalismus, nicht der in ihm lebenden Menschen. Sie werden dadurch immer wieder in Sinnkrisen gestürzt.

Seien wir doch ehrlich: die Massenarbeitslosigkeit lässt sich bei ungebremster Ausdehnung der Profitmaximierung über den ganzen Globus, und unter beinahe ausschließlichem Privateigentum an Produktionsmitteln, nicht bekämpfen. Die systeminterne Logik ist offenbar ausgereizt. Daran wird auch eine Linke kurzfristig nichts grundlegend ändern. Nur wenn sie Mehrheiten dafür gewinnt, aus diesem Denkkäfig auszubrechen, könnte sie mittel- und langfristig neue einheimische, europäische und globale Spielregeln erlassen.

Arbeitslosigkeit ist die radikalste Form von Arbeitszeitverkürzung. Eine Nulllösung, die beweist, die Wirtschaft braucht Verkürzung, aber die Menschen brauchen sie nicht so. Die verbleibende Erwerbsarbeit muss gerechter verteilt werden. Ob es realistisch ist, drastische Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich zu fordern, ist auch unter Gewerkschaftern umstritten. Da heute schon viele bereit sind, für weniger Geld länger zu arbeiten, wenn sie nur den Arbeitsplatz behalten, scheint es mir folgerichtig, dass sie unter dieser Bedingung auch nicht abgeneigt wären, erträgliche Geldeinbußen durch sehr viel weniger Arbeit auszugleichen.

Ergänzend dazu müsste ein neuer Typ von natur- und menschenzugewandter Arbeit mit einem durch Steuergerechtigkeit finanzierten Bürgergehalt entgolten werden. Erst dieses unabhängig machende Grundeinkommen würde dazu berechtigen, von einem Bürgerstaat zu sprechen, in dem jeder in Würde leben kann.

Ein solcher Staat hätte eine weitere Möglichkeit, Arbeitsplätze zu schaffen, wenn er nämlich selbst Unternehmer ist. Wenn er also aus der effektiven Verwaltung von partiellem Gemeineigentum Gewinne erzielt, die in jenes Bürgergehalt investiert werden können. Wer glaubt, dies seien unbelehrbare Rückgriffe in die planwirtschaftliche Mottenkiste sei versichert: Alle Wiederbelebungsversuche der "guten alten Zeiten" sind unrealistisch, dafür gibt es im Osten einen Erfahrungsvorsprung. Dieser besagt aber auch: Durch die schrankenlose Privatisierung fast aller öffentlichen Güter haben die Politiker sich selbst entmachtet. Wo kein Haben ist, da ist nach geltender Spielregel auch kein Sagen. Wer nur noch Schulden verwaltet, kann nicht gestalten.

In seiner Streitschrift Wozu noch Gewerkschaften betont Oskar Negt: "Wer nicht die Herrschaftsverhältnisse als Ganzes abschaffen will, wird sie auch in ihren Teilaspekten nicht überwinden können." Wer dieser Forderung Radikalität unterstellt, sei daran erinnert, dass zur Zeit nur eins radikal ist: das Kapital. Gebraucht wird eine gemischte Wirtschaftsordnung, in der die Fermente Markt und Plan optimal dosiert werden, in der die Bürger Mitsprache über Haushalte haben, weil der Anteil des Gemeineigentums erstmalig demokratisch kontrolliert wird. In der die Regierung wieder regiert. Denn wenn die Demokratie nicht die Wirtschaft erfasst, ist sie keine.
 
aus FREITAG Nr. 30 vom 29.07.2005
Die Ost-West-Wochenzeitung

Daniela Dahn


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Lektüretipp

Wir empfehlen Euch die Lektüre  von " Das kurze Gedächtnis - Wie es wurde, was es ist - Splitter aus der deutschen Nachkriegsgeschichte" Gedanken von Kerstin Kaiser, Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau www.dielinke-neuenhagen.de/fileadmin/neuenhagen/Gedaechtnis.pdf