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Abgehängt

Soso, es gibt also tatsächlich Arme in Deutschland. Und dann gleich so viele! Das ist eine echte Überraschung! Und wie heißen die doch gleich noch einmal? „Abgehängtes Prekariat“? Das klingt aber nicht gerade freundlich.

Soso, es gibt also tatsächlich Arme in Deutschland. Und dann gleich so viele! Das ist eine echte Überraschung! Und wie heißen die doch gleich noch einmal? „Abgehängtes Prekariat“? Das klingt aber nicht gerade freundlich.


Naja, wenn sie aber eh schon abgehängt sind, dann werden sie ja vielleicht auch bald mal hinten runterfallen, wie man so sagt. Sind ohnehin alles hoffnungslose Fälle, denn die haben die SPD nicht gewählt und werden sie auch nicht mehr wählen, sagt die Ebert-Stiftung, und die muss es ja wohl wissen.
Mhm, wenn sie die SPD ohnehin nicht mehr wählen wollen, dann würde ich mir, an der Stelle von Kurt Beck und Franz Müntefering, wahrscheinlich denken: Dann können sie auch ruhig arm bleiben. Werden sowieso nur wieder so ein Protestzeug wählen, wahrscheinlich die PDS.
Aber warum ist das so? Nun, 20 % der Bevölkerung in den neuen Bundesländern gelten als „abgehängtes Prekariat“, „nur“ 4 % sind es in Westdeutschland. Dies sind sicher immer noch 4 % zu viel, aber 20 %, das ist jeder Fünfte. Mein Vorschlag zu einer schnellen Lösung des Problems: Hängen wir die neuen Bundesländer doch einfach wieder ganz ab.
Obwohl ... ich wohne ja hier. Dann sollen die Herren an der SPD-Spitze mal froh sein, dass ich die PDS wähle und nicht die gerade in den Unterschichten populäre NPD, welche gerade im Gewand des Nothelfers durch die Quartiere der Armen im Osten tourt und in Mecklenburg-Vorpommern in Fraktionsstärke in den Landtag eingezogen ist.

6,5 Millionen Wahlberechtigte soll das „abgehängte Prekariat“ insgesamt ausmachen?! Da muss ich doch glatt mal nachschlagen, was „Prekariat“ überhaupt bedeutet, hört sich ja an, wie eine schlimme Hautkrankheit.
Also, Wikipedia meint: Prekariat ist ein euphemistischer Neologismus der Soziologie, geformt aus Teilen des Wortes Prekarität (Adj.= pre|kär [lat.-frz.] schwierig, heikel, ungewiss, unsicher) und Proletariat und definiert "ungeschützte Arbeiter" als eine neue soziale Klasse. Charakterisiert wird das Prekariat durch ungeschützte, so genannte flexibilisierte Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit oder Niedrigsteinkommen, Verschuldung oder mangelnde Bildung. Kommen mehrere Faktoren zusammen und mündet dies in langfristige Aussichtslosigkeit auf Verbesserung der Situation, häufig in Verbindung mit Resignation, wird vom „abgehängten Prekariat“ gesprochen. Weiterhin zeichnet sich diese Gruppe durch geringen familiären Rückhalt und einem Hang zu autoritären politischen Verhältnissen aus.

Das hört sich nicht gut an, da will man nicht dazugehören. Andererseits, so viel schlechter wie einem Großteil der Deutschen geht’s denen nun ja auch wieder nicht. Denn immerhin 63 % von uns machen die gesellschaftlichen Veränderungen Angst. Das heißt de facto, fast 2/3 von uns leben in Angst! Und 46 % empfinden ihr Leben als ständigen Kampf. Fast die Hälfte. Das ist auch nicht schön. Kaum weniger, nämlich 44 % fühlen sich vom Staat allein gelassen.

Ach du lieber Gott! Über das Geld hüllten wir besser gleich ganz den Mantel des Schweigens. 59 % der Deutschen müssen sich derzeit finanziell einschränken. Ehrlich gesagt, ich gehöre auch dazu. Aber das macht nichts. Unser blitzgescheiter Finanzminister, der gescheiterte Ministerpräsident Peer Steinbrück, der hat uns doch gesagt, wie wir uns da helfen können: Einmal im Jahr weniger in Urlaub fahren und die Rente ist gesichert. Tja, einmal weniger im Jahr in Urlaub. Das sagt sich so leicht, wenn man dauernd auf Staatskosten in der Weltgeschichte herumfliegt. Für mich heißt einmal im Jahr weniger in Urlaub zu fahren, dass ich dieses Jahr - 1 Urlaubsreisen vor mir habe. Dann müsste ergo die Regierung das Jahr glatt um 14 Tage verlängern, damit ich so lange zu Hause bleiben kann, wie der Herr Minister sich das wünscht! Ich weiß es nicht genau aber vielleicht wäre es einfacher, der Herr Steinbrück zahlte die Einnahmen aus der 2007 kommenden Mehrwertsteuererhöhung von 3 % in die Rentenkassen ein, dann könnte das Jahr für mich vielleicht so lang bleiben wie bisher. Ob sich das allerdings wegen mir allein lohnt?
Aber ich will nochmal auf das abgehängte Prekariat zurückkommen. Wie ist es denn überhaupt möglich, dass solch eine Bevölkerungsgruppe, noch dazu von dieser Größe, plötzlich auftaucht? Entweder die haben sich bisher gut versteckt oder es hat sie in dieser Form überhaupt nicht gegeben! Wenn es sie aber nicht gegeben hat, dann müssen doch irgendwie, irgendwann und von irgendwem Bedingungen geschaffen worden sein, damit sie überhaupt entstehen konnte. Und wer ist jetzt seit rund acht Jahren in der Bundesregierung tätig und somit für die Rahmenbedingungen des Sozialstaats mit verantwortlich? Die SPD. Und wer besetzt die ganze Zeit über den Sessel des Arbeitsministers? Jemand von der SPD. Ja, warum wollen diese 6,5 Millionen Menschen dann wohl nicht die SPD wählen? Weil die SPD die Schlüssel zum Arbeitsmarkt und zur Gestaltung einer gerechteren Sozialpolitik schon viel zu lange in der Hand hält aber nichts, gar nichts, tut, damit sich die Lage auch nur irgendwie bessert. Die SPD hat uns viel versprochen und sie hat nichts gehalten. Dem Altkanzler Schröder kann man vorwerfen, er habe alles falsch gemacht, vielleicht sogar, dank Hartz IV und Agenda 2010, dass er die Entstehung des abgehängten Prekariats verschuldet habe. Aber er hat wenigstens etwas getan. Politik basiert immer auf Versuch und Irrtum. Heute muss man zumindest Schröders Wille zur Neugestaltung eines stark defizitären Sozialsystems anerkennen, auch wenn dadurch die Lage de facto verschärft wurde.
Die jetzige SPD, die unter einer erschreckend schwachen Kanzlerin Merkel und einer kaum wahrnehmbaren CDU/CSU, alle wichtigen Ministerien erneut in der Hand hält, ergeht sich in Nichtstun und Herumstänkern. Das dürfte jedoch kaum genug sein, um eine Politik zu machen, die wenigstens der Mehrheit der Bürger das Gefühl wieder gäbe, nicht in ihrer Existenz bedroht zu sein! Freilich ist Existenzbedrohung in den Fonds edler Limousinen ein recht abstrakter Begriff.
Wäre ich Mitglied der SPD, ich würde mich für meine Partei schämen, die acht lange Jahre alle Möglichkeiten hatte die Bundespolitik zu gestalten und offensichtlich nicht in der Lage war, den Menschen auch nur das Gefühl von Sicherheit zu geben – von tatsächlicher Sicherheit möchte ich gar nicht erst schreiben. Und diese Partei ist es nun, die jene, die durch ihre Politik gesellschaftlich deklassiert wurden, als „abgehängtes Prekariat“ bezeichnet. So viel kalten Zynismus hätte ich vielleicht von Guido Westerwelle und seiner FDP erwartet, aber nicht von einer Volkspartei, die sich als sozial und demokratisch bezeichnet. Wer sich so verhält, hängt sich selbst ab, vom Anspruch das Volk und gerade die Arbeiterklasse zu vertreten.

Dr. phil. Arno Gassmann


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Lektüretipp

Wir empfehlen Euch die Lektüre  von " Das kurze Gedächtnis - Wie es wurde, was es ist - Splitter aus der deutschen Nachkriegsgeschichte" Gedanken von Kerstin Kaiser, Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau www.dielinke-neuenhagen.de/fileadmin/neuenhagen/Gedaechtnis.pdf