Diese Website verwendet Cookies.
Zum Hauptinhalt springen

Sven Kindervater

#Sonntagsgedanken: Wer Özil kritisiert, darf an der Gesellschaft nicht Halt machen

Die Aussagen von Mesut Özil schlagen mitten ins Herz einer viel zu lange nicht geführten Debatte. Doch während man quer übers Netz nun wird lesen können, dass das Treffen mit Erdogan keinesfalls hinnehmbar ist, gibt es in seinen Aussagen Punkte, welche diskutiert werden sollten. Nicht, weil Özil damit recht ungeschickt versucht abzulenken, sondern weil wir diese Debatte brauchen.

Die Aussagen von Mesut Özil schlagen mitten ins Herz einer viel zu lange nicht geführten Debatte. Doch während man quer übers Netz nun wird lesen können, dass das Treffen mit Erdogan keinesfalls hinnehmbar ist, gibt es in seinen Aussagen Punkte, welche diskutiert werden sollten. Nicht, weil Özil damit recht ungeschickt versucht abzulenken, sondern weil wir diese Debatte brauchen.

Es ist 2014 und als hätte man es schon über Wochen spüren können: Deutschland wurde Weltmeister. Mittlerweile hatte sich das 2006 wieder entdeckte Fahnenschwenken auf ein annähernd gesundes Mittelmaß eingefunden und das 2010 betitelte Wunder von der Mannschaft mit Migrationshintergrund war selbstverständlich und zutiefst integriert.

Da war es auch schon drei Jahre her, dass der Star des Mittelfeld von „Die Mannschaft“, Mesut Özil, an Weihnachten 2011 dem Türkischen Staatspräsidenten ein mit Unterschriften signiertes Trikot seines neuen Arbeitgebers Real Madrid überreichte, inklusive werbewirksamen Pressefoto. Etwas, was im Grunde nur extrem eingefleischte Sportreporter bemerkten – und jene, welche sich dieser Tage auf die Spuren einer tief in die deutsche Gesellschaft verwurzelten Debatte begeben.

 

Whataboutism schadet immer

Mesut Özil hat sich nun zu seinem Foto – allerdings eben jenem vom Mai 2018 – und allem was folgte, geäußert. Auf Englisch, auf Twitter, über drei Bild-Tweets mit jeweils ein paar Stunden Abstand. Abgeschirmt von jeder Möglichkeit von Nachfragen und offenkundig komplett durchkomponiert. Schon allein das wird ihm nur wieder neue Kritik einbringen.

Dazu bedient der U21-Europameister von 2009 das dieser Tage besonders beliebte Medienspiel des „Whataboutism“, welches die Kollegen von Extra 3 vom NDR so schön beleuchteten. Er holte zum Rundumschlag aus – wenn ich gehe, gehen die anderen auch. Ein allseits beliebtes und auch recht trotziges Manöver, welches meist eher zur Diskreditierung der Kernargumentation führt. Fördern wird es der Debatte keinesfalls.

 

Das Politische Foto

Doch genau das möchte ich Mesut Özil nicht durchgehen lassen. Denn seine Berater waren ja durchaus recht fleißig im Zusammentragen einiger des Nachdenkens würdiger Gedanken. Aber vielmehr noch, dass die Reaktionen auf ein Foto von 2011 und auf eines von 2018 auch mehr darüber sagen, wo wir in den vergangenen Jahren als Gesellschaft hingekommen sind.

Nein, es gibt keine unpolitischen Fotos mit Politikern. Mein Foto von der Bratwurst auf der letzten Betriebsfeier, das mag unpolitisch sein (oder in Anbetracht der Fleischskandale genau nicht?). Aber das Spektakel rund um Sport, Medien und Politik kann und wird es nie sein. Da kann man auch mal mit der eigenen Mutter argumentieren, man darf sogar sehr höflich zu einem Präsidenten sein. Aber es gibt nichts Unpolitisches im Politischen. Das Foto war falsch und dass Mesut Özil das bis heute nicht erkennt, ist zu bedauern.

 

Politik im Sport

Die Argumentation kennt man aber auch von woanders, nämlich immer dann, wenn man Rechtsextremismus in deutschen Amateurligen thematisieren will. Politik habe im Stadion nichts zu suchen, man solle sich raushalten. Auch mein Artikel „Fußballfans sind Antikapitalisten“ von 2015 wurde damals kritisiert, ich solle mich auf Politik konzentrieren und den Sport da heraushalten. Dabei ist es mittlerweile offensichtlich, dass Politik und Sport untrennbar sind.

Die Politik bedient sich sportlicher Großereignisse und die Reaktionen aus der Bevölkerung geben ihnen Recht. Kroatiens Präsidentin wird gefeiert – vollkommen unabhängig der klaren rechten Tendenzen in ihrem Land und der Nationalmannschaft. Emanuel Macron wird gefeiert, die Proteste gegen seine Politik verschwinden im Jubeltaumel auf dem Champs-Élysées. Und auch der Bundestag verabschiedet am liebsten die unbeliebtesten Gesetze während die Fanmeilen voll sind.

 

Rechtsextremismus am Spielfeldrand

Aber auch Rekrutierung von politischen Strömungen, zumeist rechts- bis rechtsextrem, findet rund um den Fußball statt. Ob nun Hitlergrüße in Jugendmannschaften wie in Leipzig oder rechter Terror mitsamt verstörender Hausbesuche seit über 15 Jahren beim FC Energie Cottbus – auch hier haben die Vereine endlich erkannt, dass man aktiv etwas tun muss. Einfach über Einzelfälle zu reden und Strukturen zu negieren, das wird nichts nützen. Und da reden wir noch nicht über die fast überall gelebten Werte in Vereinen, die oftmals eher der militaristischen Turnvater-Jahn-Mentalität entsprechen als einem mündigen und aufgeklärten 21. Jahrhundert.

Was ich bei alledem nie begriffen habe: Ob beim FC aus Neuenhagen, der Energie aus der Lausitz oder der Borussia aus Dortmund – keiner der Vereine kommt ohne Fußballer aus aller Herren Länder aus. Im Gegenteil: Oftmals sind es eben jene, die den Unterschied machen. Waren vor der WM nicht alle sauer, dass ein Brandt statt ein Sané vom Herrn Löw nominiert wurde? Und jetzt soll das (für mich jetzt schon als Unwort des Jahrs geltende) „Biodeutsche“ wieder das Maß aller Dinge sein?

 

Multikulti und sein Präsident

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Und zwar schon seit über 60 Jahren. Die Lüge der „Gast“-Arbeiter wurde aber nie aufgearbeitet. Nein, diese Leute werden nicht mehr gehen und ihre Kinder und Kindeskinder leben mitten unter „uns“. Diesen Widerspruch erkennt man besonders im von Özil kritisierten DFB-Präsidenten, Reinhard Grindel.

Grindel ist Politiker der CDU, Bundestagsabgeordneter. Dies nur noch einmal zur Erinnerung an all jene, welche behaupten, Politik habe nichts mit Sport zu tun. Ein mächtiger Fürst der Konservativen lenkt den als gemeinnützig (und damit steuerbefreiten) anerkannten mitgliederstärksten Verein Europas. Und 2004, als die Unioner noch in der Opposition saßen, erklärte die spätere Dauerkanzlerin Angela Merkel: „Multikulti ist gescheitert!“

Wie sich das für einen aufstrebenden Machtpolitiker der Christlichen gehört, plapperte er das einfach nach und blies medienwirksam ins selbe Horn. Als dann im Zuge des Skandals von FIFA, UEFA und DFB ein Kopf nach dem anderen rollte, stand seiner irgendwie eben noch da und er übernahm die als Multikulti gefeierte „La Mannschaft“, auf dem Weg zur EM in Frankreich. Die Spannungen dieses Konstruktes kommen nun ans Licht.

 

Scheindebatten als Schweigemittel

Es ist daher nicht verwunderlich, dass man dieser Tage lieber über Mesut Özil schimpft, statt zu verstehen: Die strukturellen Defizite, die nicht geführten Debatten und die mangelnde Definition dessen, was eben eine Nationalmannschaft sein und repräsentieren soll, sind noch lange nicht aufgearbeitet. Viel wird geschrieben, die DFB Spitze würde die Verantwortung übernehmen. Aber hieße das nicht auch immer, Konsequenzen zu tragen?

Stattdessen soll sich am Liebsten gar nichts ändern. Vielleicht wird nun auch Khedira nicht mehr nominiert werden, Toni Kroos wird erklären, dass er sich ganz auf Freistöße in der Champions League konzentrieren will und Boateng soll vor neuen Verletzungen geschont werden. Damit, so wird uns erklärt werden, ist dann auch alles erledigt. So echte Weltmeister sind eben zu satt. Und all der Streit über Politik in den Stadien, Pyro auf den Tribünen, Kommerzialisierung des Sports und Kritik von Korruption bei Bewerbungen über Dieselgate bei Hauptsponsor Mercedes bis Steuerbefreiung der Vereine sind damit ausgestanden.

Jetzt geht es nur noch darum, die Sau zu finden, die man am wirkmächtigsten durchs Dorf jagen kann, damit genügend Nebendebatten den Diskurs bestimmen. In Zeiten, wo ernsthaft diskutiert wird, ob Menschen im Mittelmeer ertrinken sollen und ob Mitgefühl ein Luxus ist, da stößt Mesut Özil durch sein apolitisches und Berater-schwangeres Agieren eben – anders als noch 2011, wo Asylsuchende lediglich Italien beschäftigten – auf sehr fruchtbarem Boden.

 

„Weiß, nicht nur eine Trikotfarbe“

2006 machte die NPD ein Plakat mit der Aufschrift „Weiß, nicht nur eine Trikotfarbe“ und erntete müde etwas Kritik. Aber eben, weil sie keiner wirklich ernst genommen hat, diese Randpartei der ewig Gestrigen. Heute sitzen so denkende Leute als Oppositionsführer im Bundestag. Und so sehr man in dem ganzen Theater Einzelnes an Özil kritisieren kann, ist die Mehrheit der Äußerungen rassistisch geprägt.

Eine Gesellschaft, die den Islam fürchtet, die in weiten Teilen von Überfremdung redet und gar den Bevölkerungsaustausch heraufbeschwört. Wo am hellerlichten Tag auf einem der schönsten Plätze in Dresden Menschen mit Inbrunst Asylsuchenden im Mittelmeer „Absaufen“ zurufen. Die debattiert, ob man den Holocaust und Homosexualität an Schulen lehren solle – mit der ist etwas geschehen. Denn was ist denn der Unterschied zwischen 2011 und 2018?

Es ist nicht das erhöhte Bestreben, Politik von Sport zu trennen. Es ist nicht der Volkswille nach mehr flexibler Dreierkette statt Tiki-Taka. Es ist nicht der Drang nach Entkommerzialisierung und auch nicht nach einer echten Debatte, was auf Fankultur vs. „Familienfest“ eigentlich folgen soll. Es ist der aufkommende Rechtspopulismus.

 

Angst vor den Rechten

Wenn Cem Özdemir mal eben daher sagt: "Es ist sehr bedauerlich, wie sich Özil jetzt äußert. Damit spielt er denen einen Steilpass zu, die unsere Demokratie ablehnen ", macht er aus dem Rassismus-Opfer Özil einen Täter – eine Umkehrung, die nicht hinzunehmen ist! Während Frankreich derartig stolz auf seine Migranten ist, dass es schon fast übers Ziel hinausgeht, wenn es Aussagen von Satirikern kritisiert, die den Sieg der WM auch als Sieg Afrikas bezeichneten, geht es nun in Deutschland darum, bloß nichts zu tun, was zur erneuten Einwanderungsdebatte führen kann.

Und so obsiegt am Ende natürlich nur einer: Der Neu-Rechte Zeitgeist mitsamt seiner stärksten Abteilung, der AfD. Das Gift in der Debatte und die Angst vor immer mehr Wählerstimmen tragen dazu bei, dass ein Foto von 2011 und ein Foto von 2018 vollkommen unterschiedlich bewertet werden.

 

Grundsätzliche Debatte oder gar keine!

Daher kann man dieser Tage gar nicht umher, Özil beiseite zu legen und über das Grundsätzliche zu reden. Im DFB, in der Verflechtung mit der Politik und der gesellschaftlich-geladenen Grundstimmung. Man hätte es wie der schwedische Verband machen können und mit aller Macht den Rassisten in den Foren und auch Medien vehement Einhalt gebieten können. Kritik an Özil ja, rassistische Kommentierung und Ausgrenzung („kein Deutscher“) nein!

Aber dazu hat man offenkundig nicht die Kraft. Nicht nur die Anhänger der AfD scheinen also von Angst getrieben zu sein, sondern mittlerweile die gesamte Politik und auch der Sport. Spätestens jetzt sollte klar sein: Der Sport ist politisch. Und der Erfolg im Land und auf dem Platz kommt erst dann wieder, wenn Integration und Einwanderung endlich positiv und lösungsorientiert beantwortet werden. Oder man macht es, wie so viele dieser Tage in den sozialen Medien: Man redet einfach über Özils Form seiner Augen. Kann man auch.


Themenbereiche

Friedenspolitik

Sozialpolitik

Kommunalpolitik

Öffentlichkeitsarbeit

Parteipolitik

Sonstige Beiträge

Zurück zum Themenbereich mit dem Browser-Button, zur Themenseite mit dem Zurück-Button links unten