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Sven Kindervater

#Sonntagsgedanken: Wer braucht schon Informationen?

In kaum einer Debatte darf es dieser Tage fehlen: Der Ruf nach mehr Informationen, nach mehr Sicherheit und Verboten, etwa für die Vollverschleierung. Deutschland hat Angst und es will Taten sehen. Unser Autor findet: Neue Gesetze helfen rein gar nichts. Vielleicht wenden wir erst einmal die an, die wir haben. Und widmen uns den wirklichen Problemen.

In kaum einer Debatte darf es dieser Tage fehlen: Der Ruf nach mehr Informationen, nach mehr Sicherheit und Verboten, etwa für die Vollverschleierung. Deutschland hat Angst und es will Taten sehen. Unser Autor findet: Neue Gesetze helfen rein gar nichts. Vielleicht wenden wir erst einmal die an, die wir haben. Und widmen uns den wirklichen Problemen.

 

Sicherheitsdebatten verlaufen so ein wenig wie eine Schmierenkampagne. Selbst wenn man eigentlich nichts hat, um die weiße Wand zu beschmutzen, reicht ein wenig Dreck und es bleibt garantiert was hängen. Erinnern Sie sich noch an Bundespräsidenten Wulff? Der Mann ist freigesprochen worden. Frei, verstehen Sie? Nicht frei von Meinung („Der Islam gehört zu Deutschland“), nicht frei von Fehlern, nicht frei von Selbstverliebtheit. All das mag auch dazu führen, dass Sie den nicht leiden konnten. Aber juristisch ist ihm nichts vorzuwerfen. Doch das Urteil wollte keiner abwarten. Wulff ist für mich ein Mahnmal, welches unterstreicht, wie gefährlich es ist, den vorgeschlagenen Lösungen aus dem öffentlichen Diskurs blind zu folgen.

 

Mehr Wissen!

Burkas. Von all den Debatten der letzten Monate diskutieren wir dieser Tage ernsthaft über die Vollverschleierung von Muslima. Also genauer gesagt von 0,045% der in Deutschland lebenden Muslima. Noch vor Wochen scherzte ich, alle Attentäter trugen Jeans, man sollte also eher die Kleidung fürchten. Aber da habe ich nicht mit der CDU gerechnet. Übrigens nicht ganz ohne Ironie: Als der Bundesinnenminister im RBB sagte, dass es zu Deutschland gehöre, das Gesicht zu zeigen, musste nicht nur ich an seine und Henkels vollvermummten Prügelknaben aus der Rigaer denken.

Dahinter steckt ja aber eine viel allgemeinere Debatte, welcher sich auch Sahra Wagenknecht nicht zu schade war: „Der Staat muss jetzt alles dafür tun, dass sich die Menschen in unserem Land wieder sicher fühlen können. Das setzt voraus, dass wir wissen, wer sich im Land befindet und nach Möglichkeit auch, wo es Gefahrenpotentiale gibt“, schreibt sie in ihrer viel diskutierten Pressemitteilung. Nun will ich diese Debatte hier nicht neu aufrollen. Denn lange bevor Sie sich für meine Sichtweise öffnen werden, liegt es schon auf Ihrer Zunge: Sie hat doch Recht!

 

Mehr Überwachung!

Was ist dagegen auch zu sagen? Natürlich wäre es gut, wenn wir um Gefahrenpotentiale früher Bescheid wüssten. Wie oft hat man sich selber nach einem Unfall oder einem Fehler gefragt, ob man es hätte wissen können und was man tun kann, damit es nicht wieder passiert. Wir sind auf der Suche nach der Regel, die uns vor wiederholtem Schicksalsschlag schützen soll. Und dieser Tage heißt die Regel eben: Vorsicht vor dem Islam. Aber auch darüber will ich heute nicht schimpfen. Ich drehe das heute mal um: Nehmen wir an, wir müssen wirklich wissen, wer hierherkommt und der Islam ist wirklich das Problem – was bedeutet das denn konkret?

Wir müssten erst einmal unsere liberalisierte Vorstellung der Privatsphäre in weiten Teilen außer Kraft setzen. Wir müssten womöglich die Bundeswehr im Inneren erlauben. Wir müssten unseren Geheimdiensten weitreichende Kompetenzen geben. Und in Zeiten der europäischen Anschläge wären Notstandsverordnungen sicher nicht die schlechteste Wahl. Dazu vollumfängliche Einschränkung des Islam, mal unter dem Deckmantel des Feminismus, mal als Hinterhof-Moschee-Debatte. Sicherheit für Freiheit, ein Traum, welchen dieser Tage nicht nur die CSU träumt. Aber dann wären wir wirklich ein Stück sicherer. Muss ja nicht für immer sein, aber in der aktuellen Situation muss das einfach sein. Ach, muss es das?

 

Mehr Sicherheit!

Am stärksten ist dieser Tage vor allem Frankreich von Anschlägen betroffen. Dazu eine Bevölkerung, die kurz davor ist, Marine Le Pen zur Präsidentin zu küren, welche die anderen Parteien aus Angst vor ihrem Erfolg, ähnlich wie die AfD hierzulande, nach rechts verschiebt. Das Problem ist nur: In dem europäischen Land mit der höchsten Anzahl von Anschlägen gelten diese Sicherheitsverschärfungen alle bereits. Alles das, wo einem Frank Henkel feucht ums Auge wird, wird dort schon praktiziert. Es hat aber rein gar nichts gebracht. Urlauber erzählen mir, wie unerträglich es geworden ist, auf Paris‘ Straßen umherzulaufen. Ich erinnere mich noch, wie es mich bedrückte, als für nur wenige Tage mal die Bundespolizei mit großem Kaliber auf den Bahnhöfen Ostkreuz und Lichtenberg herumlief.

Die Attentäter von Paris und Brüssel waren den Behörden bekannt. Die NSA konnte wenige Tage nach den Anschlägen in Deutschland Verbindungen nach Saudi-Arabien zuarbeiten. Einige nehmen das nun zum Anlass für ein Hohelied auf die NSA. Ohnehin wissen unsere Dienste enorm viel über uns, auch in Deutschland. Und doch darf nach keinem Vorfall fehlen, nach mehr Überwachung und Sicherheit zu rufen.

 

Mehr Wissen?

Aber es ist wie so oft mit der Information: Wie wissen, wie bei Apple und Primark produziert wird – gekauft wird trotzdem. Wir wissen, wie ungesund Zigaretten, McDonalds und Aldi-Gehacktes sind – verzehrt wird es trotzdem. Wir wissen um den Lobbyismus der Waffenindustrie, der Banken und der Autoindustrie – trotzdem werden die von ihnen gefütterten Parteien zu über 90% gewählt.

Wir haben kein Informationsproblem. Wir haben ein Problem damit, was wir mit den Infos machen.

Der Kabarettist Robert Griess sagte dieser Tage: „Laut BKA gab es letztes Jahr mehr als tausend Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und niemand nennt das rechten Terror. Stellen Sie sich mal vor, Occupy-Aktivisten hätten tausend Filialen der Deutschen Bank verwüstet, was meinen Sie, was hier los wär'?! An jeder Ecke ständ' die Bundeswehr.“  Die Reaktionen auf Ereignisse hat mit den reellen Problemen nichts zu tun, sondern sind vielmehr Ausdruck der schon lange gehegten Träume von Ideologen. Jeder, der glaubt, aus Europas Krise hilft nur ein Zurück zu Nationalstaaten, macht sich zum Bettvorleger der neuen Faschisten. Jeder, der wie der SPIEGEL diese Woche Steuersenkungen verlangt, der begeht den geistigen Kniefall vor dem Kapital. Und jeder, welcher dieser Tage ein Burka-Verbot fordert und bereit wäre, aus Angst mehr Überwachung zuzulassen, macht sich schlichtweg zum Handlanger der Law-and-Order-Innenminster von CDU und CSU.

 

Mehr Überwachung?

Unsere Dienste wissen genug. Aber dieselben Innenminister sparen den öffentlichen Dienst komplett in die Unfähigkeit (vielleicht doch keine Steuern runter?), sodass die Bereitschaftspolizei zu keinem Diebstahl mehr pünktlich erscheint. In Berlin rennen hunderte Nazis frei rum, die ihre Haftstrafe nicht angetreten sind, und die keiner findet. Ernsthaft, verurteilte Straftäter, die verschwunden sind. Und Sie haben Angst vor jemanden mit langem Bart? Ich habe Angst vor dem übermüdeten, verdrossenen Kiezpolizisten und dem NSU-Netzwerk! Also der NSU, Sie erinnern sich: Die, welche tatsächlich über Jahrzehnte Anschläge in Deutschland verübten. Was glauben Sie, was nützt Ihnen persönlich mehr: Hundert neue Einsatzkräfte in Ihrem Bereich, welche die aktuellen Gesetze anwenden oder das einzige, was Innenminister tatsächlich fordern und tun, nämlich neue Gesetze mit „härteren Strafen“? 

Seit 1990 haben ca. 10 Millionen Menschen aus aller Herren Länder zu uns gefunden. Einen von einer großen Terrorzelle geplanten Angriff auf Deutschland aus religiöser oder politischer Motivation hat es bis heute nicht ein einziges Mal gegeben. Was hierzulande dieser Tage passiert, das ist der soziale Sprengstoff, der sich nun entlädt. Egal, ob durch Galgen auf Pegida-Demos oder einem verwirrten Hass auf Migranten in München, denen der Angriff dort galt. Die Probleme liegen tief in der Spaltung zwischen Arm und Reich, der fehlenden Perspektive, der Ohnmacht und der Suche nach Schuldigen.

 

Mehr Sicherheit?

Stecken Sie doch mal 100 Neuenhagener für drei Monate in die Gartenstadthalle, mit Wänden aus Plaste. Keine Privatsphäre. Unendliches Warten auf einen Termin im Rathaus. Ohne, dass sie die Sprache sprechen, denn die Kurse sind voll, Wartezeit mindestens sechs Monate. Und dann lassen Sie mal drei Messer fallen, wenn es das nächste Mal Frühstück gibt, das nur für 50 Leute reicht. Aber für genau jenen Sprengstoff interessieren wir uns nicht. Wir lassen uns vor einen Karren spannen, bei dem es um uns und unsere wirklichen Probleme gar nicht geht. Wir rennen Lösungen hinterher, die unsere Anliegen gar nicht berücksichtigen. Wir glauben Politikern, denen wir komplett egal sind.

Wir brauchen nicht mehr Verbote, wie brauchen nicht mehr Sicherheit, wir brauchen nicht mehr Informationen. Wir haben ausreichend und genug davon. Wir müssen die Probleme, welche fertig analysiert und für alle sichtbar vor uns liegen, lösen. Wir müssen uns dem Terror widmen, der real ist und unsere Exekutive personell und finanziell stärken. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit, mehr Miteinander, mehr Perspektiven und Chancengleichheit. Wir müssen nicht als „Volk“ zusammenrücken, sondern als Menschen. Seien wir zutiefst europäisch, nutzen wir die Methoden der Aufklärung und bedienen wir uns unseres eigenen Verstandes. Sagen wir Nein zu all dem Hass!


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