Diese Website verwendet Cookies.
Zum Hauptinhalt springen

Sven Kindervater

#Sonntagsgedanken: Die Selbst-Entmenschlichung

Bei aller besinnlichen Stimmung erschlagen uns viele Nachrichten dieser Tage zunehmend mit Meldungen, die uns immer wieder fragen lassen: Wer begeht solch grausame Taten, was stimmt mit denen nicht? Die bittere Antwort darauf wollen aber viele nicht wahr haben: Diese Menschen sind genauso wie wir.

Bei aller besinnlichen Stimmung erschlagen uns viele Nachrichten dieser Tage zunehmend mit Meldungen, die uns immer wieder fragen lassen: Wer begeht solch grausame Taten, was stimmt mit denen nicht? Die bittere Antwort darauf wollen aber viele nicht wahr haben: Diese Menschen sind genauso wie wir.

 

Feuer. Es wird schlagartig unfassbar warm. Es fängt an wehzutun. Dem Kopf fällt es schwer, zu begreifen, was gerade passiert. Der viele Alkohol macht die Reflexe und das Denken langsam. Die Kleidung brennt, seit Wochen nicht gewaschen, so wie man selbst. Leute stehen um einen herum, wollen die Flammen löschen.

So oder so ähnlich muss es einem Obdachlosen in Berlin ergangen sein, während die meisten von uns noch mit dem vorangegangenen Heiligabend in Gedanken in unseren warmen Betten schlummerten. Am Morgen davon lesend sind wir erschrocken über solch Brutalität. Und das vor allem aus zwei Gründen.

 

Gewalt an Obdachlosen

Zum einen, weil wir kaum mitbekommen, was es wirklich bedeutet, in Städten wie Berlin auf der Straße zu leben. Der Missbrauch und die Gewalt an Obdachlosen ist unlängst Alltag. Wer einmal nicht wegschaut, sieht die vielen Wunden und Verletzungen in den Gesichtern oder an den Händen vieler. Es sind nicht immer schlagzeilenbringende Verbrennungen, aber sie sind da.

Unsere Gesellschaft gibt vor, für alle da zu sein. Wer dennoch auf der Straße lebt, sei demnach selber schuld. Obdachlose sind Opfer, per se. Und wer mal nach Unten treten will, hatte schon immer den Sandler. Die psychische Brutalität unserer individualisierten Leistungsgesellschaft, die Menschen derart um den Verstand und in die Hilflosigkeit treiben, auch in alle möglichen Formen von Drogen und letztlich auf die Straße, ist eben keine, auf die es hierzulande Strafen gibt.

 

Was Menschen nie tun würden

Es mag uns also schocken, wenn wir von den Vorfällen in einem Berliner U-Bahnhof lesen. Aber eben nur, weil wir die ganze Aneinanderreihung von Gewalt davor ausblenden. So wirkt es wie vom Himmel gefallen und kann nicht erklärt werden. Es gibt aber auch noch einen anderen Grund: Wir glauben nicht, dass Menschen so etwas anderen Menschen antun könnten. Wir halten es schlichtweg für unmenschlich.

So kann man es in den Foren lesen: „Diese Ratten sollen mir mal unter die Augen kommen!“ / „Was für Schweine, die sowas tun!“ / „Behinderte Lebensformen, sowas sollte Todesstrafe bekommen.“ Häufig folgen dann Aussprüche, wie schwach oder unfähig unsere Justiz ist. Und noch irgendwas mit Flüchtlingen und natürlich Merkel.

 

Wenn der Mensch ein Mensch ist

In unserer Gesellschaft ist niemand einfach Mensch. Auf die Welt zu kommen reicht nicht. Ob wir es uns eingestehen oder nicht: Wir haben eine relativ klare Definition vom Menschsein. Diese definieren wir vor allem daraus, was alles nicht menschlich ist. Jemanden anzünden zum Beispiel sei unmenschlich. Oder einen LKW in einen Weihnachtsmarkt zu steuern.

Was wir nicht sehen: Manche glauben, dass alle Menschen es zu etwas bringen können und wer das nicht tut, ist folglich ein Versager – und zünden ihn an. Es fängt an mit fehlendem Respekt und mit Unverständnis. Es ist eine Distanzierung, ein Trennen. Die Verachtung von menschlichem Leben beginnt immer damit, dass man es nicht mehr als ein menschenwürdiges Leben ansieht.

 

Entmenschlichung als Voraussetzung

Der Holocaust war nur möglich, weil man Jüdinnen und Juden ihre Menschlichkeit aberkannte. In Gebieten ohne gesellschaftliche Rahmen wie eine Staatlichkeit oder einem Rechtssystem sind Vergewaltigungen, Missbrauch und Gewalt um ein Vielfaches höher. Ob nun in Aleppo, Odessa oder Sanaa.

Die Spirale der Entmenschlichung kennt keinen Anfang und kein Ende. Sie ist ein Teufelskreis. Wenn jemand anderen Leid zufügt, weil er sie nicht mehr als Menschen empfindet, ist uns nicht geholfen, wenn wir so tun, als seien diese nun auch keine Menschen mehr – und fordern selbst eine unmenschliche Behandlung. Ein Muslim, welcher alle anderen für Ungläubige hält und sie in die Luft sprengt, wird deshalb nicht zum Unmenschen, der gesteinigt oder erhängt gehört. Egal welche Forderung nach Vergeltung wir stellen: Wenn wir sie nur aussprechen, weil wir den Täter nicht mehr als Menschen, als einen von uns, empfinden, sind wir selber Teil des Problems.

 

Die Selbst-Lüge

Es ist nämlich nichts unmenschlich an all der Grausamkeit, Gewalt und Brutalität. Der Mensch ist schlichtweg zu allem fähig, was wir uns täglich beweisen. Es gehört zur bittersten Wahrheit, dass es eben genau menschlich ist, noch das Undenkbare zu begehen. Erst wenn wir das begreifen, fangen wir überhaupt erst an, die Wurzeln und Ursachen zu begreifen. Dass jemand einfach „anders“ ist, auch einfach nur anders als man selbst, ist eine der größten Lügen unserer Zeit.

Egal ob Rassismus, Islamophobie oder schlichtweg Xenophobie: In allen steckt der Kern, dass jemand anders ist als man selbst – und nur deshalb auch zu Taten fähig, die man selbst nie tun würde. Auf die Frage, ob wir mit einer ähnlichen Biografie nicht auch so hätten enden können, belügen wir uns mit einem kategorischen „Nein“.

 

Wir gegen Die

Ein Mensch ist ein Mensch, weil er ein Mensch ist. Es bedingt keiner weiteren Worte, um es zu beschreiben. Was ist also zu tun, wenn ein Mensch etwas tut, was wir gesellschaftlich ächten? Die Logik verlangt, dass wir uns mit ihm beschäftigen und seinen Werdegang zum Anlass nehmen, aus seinen Verfehlungen einen kollektiven Lernprozess einzuleiten. Doch genau das Gegenteil ist oftmals der Fall.

In einer Zeit, wo man „das wohl noch sagen darf“, in der ‚Gutmensch‘ ein Schimpfwort ist und in der man wieder ‚Deutsche Werte‘ stärken will, geht es nur darum, Menschen einfach wieder als etwas ‚Anderes‘ definieren zu dürfen. Es geht darum, sich von dem Gedanken zu befreien, man habe irgendetwas mit diesen Menschen zu tun. Wir sind gut, die sind schlecht. Ende.

 

Bei uns anfangen

So kristallisiert sich die gesellschaftliche Debatte dieser Tage als ein Angriff auf die Grundwerte die Aufklärung und dessen, was uns überhaupt vom Tier unterscheidet: Die Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu benutzen.

Wer die Spirale der Entmenschlichung durchbrechen will, muss bei sich anfangen. Ich hätte der schlafende Obdachlose sein können, der anzündende Jugendliche oder der helfende Passant. Ich bin Mensch und als Mensch bin ich zu allem fähig. Niemand wird böse geboren, das Sein bestimmt das Bewusstsein. Wenn ich etwas Anderes glaube, entmenschliche ich mich nur selbst. Beginnen wir doch also damit, dieser Selbst-Entmenschlichung ein Ende zu setzen.


Themenbereiche

Friedenspolitik

Sozialpolitik

Kommunalpolitik

Öffentlichkeitsarbeit

Parteipolitik

Sonstige Beiträge

Zurück zum Themenbereich mit dem Browser-Button, zur Themenseite mit dem Zurück-Button links unten