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Sven Kindervater

#Sonntagsgedanken: Aufruf zum Online-Widerstand

Im Internet tobt ein Kampf. Unser Autor meint: Es geht um Aufklärung gegen Verklärung. Warum es gerade jetzt so wichtig ist, sich einzumischen, es einzudämmen und seinen kleinen Teil zu leisten, schreibt Sven Kindervater.

Im Internet tobt ein Kampf. Unser Autor meint: Es geht um Aufklärung gegen Verklärung. Warum es gerade jetzt so wichtig ist, sich einzumischen, es einzudämmen und seinen kleinen Teil zu leisten, schreibt Sven Kindervater.

Seit mehr als einem Jahr erlebe ich diese Abende, an denen ich kaum Schlafen gehen mag. Wider besseren Wissens lese ich Kommentare zu Artikeln über die Asyl-Debatte und kann nicht umhin, meine Meinung kundzutun. Das bleibt selten ohne Reaktion. Dabei regt mich dann gar nicht auf, dass es andere Meinungen gibt. Es schockiert mich vielmehr das Niveau und vor allem der Grad an Faktenverdrehung, der es einem unmöglich erscheinen lässt, noch von einem Diskurs sprechen zu können.

 

Der bezahlte Volkstod

Menschen haben sich schon immer die Welt erklären wollen. Vielfach habe ich das an dieser Stelle schon ausgeführt, inklusive warum das mitunter unterbewusst geschieht und nicht immer mit der Realität verbunden ist. Doch was man dieser Tage so mit einer Inbrunst vorgetragen bekommt, ist schon abenteuerlich. Drei Beispiele:

 

  • Da wird vor einem „Linken Faschismus“ gewarnt, der genauso schlimm sei, wie einer von Rechts. Neben der schon letzte Woche angesprochenen, unzulässigen Gleichsetzung, wird hier zunächst der Faschismusbegriff vollkommen entleert, denn anderweitig ist er mit dem Adjektiv „links“ gar nicht kompatibel. Auf Nachfragen, was denn dieser linke Faschismus sein soll, wird traditionell nicht geantwortet.
  • Es wird vor einem „Volkstod“ gewarnt, der darauf hinweisen will, dass durch Zuwanderung das deutsche „Volk“ aussterben soll und zwar geplant durch die Bundesregierung. Zu welchem Zwecke bleibt offen und wie das Zuwanderung im einstelligen Prozentbereich schaffen will, ist auch schleierhaft.
  • Ebenso darf natürlich die bezahlte Antifa nicht fehlen. Dazu schrieb ich ja schon letzte Woche. Woher übrigens die AfD mal so eben über Weihnachten 2 Mio € bekommen hat, wozu sie diese braucht, warum es in Sachsen ein Pflichtdarlehen für Listenplätze in Höhe von 3000€ gab und wer die großen einseitigen Anzeigen zur Bundestagswahl in FAZ&Co finanzierte – dazu liest man nichts.

 

Dabei darf natürlich nicht fehlen, dass alle Gegner über einen Kamm geschärt werden. So begleiten einen auch immer Bildkommentare, wo man auf der einen Seite gebildete Bürger sieht und auf der anderen das ZDF, die Homosexuellen-Flagge, die Antifa und die GRÜNEN – anscheinen für manche alles eine Soße. Das Feindbild wird vereinfacht und somit leichter angreifbar. Macht das ZDF Fehler in der Berichterstattung, wirft man es Antifaschisten vor, fordert eine GRÜNEN-Politikerin etwas, sei das typisch Gender-Mainstreaming. Hauptsache alles ist böse und vor allem miteinander verschworen gegen die „einzig Verstehenden“.

 

Das Recht auf Arschlochsein

Polens neuer Außenminister erklärte zuletzt in einem Interview zur Rechtfertigung seiner nationalistischen Politik: Die neue Regierung wolle „lediglich unseren Staat von einigen Krankheiten heilen, damit er wieder genesen kann“. Der Vorgängerregierung warf er vor, in den Medien "ein bestimmtes linkes Politik-Konzept verfolgt" zu haben. „Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen.“ Dies habe „mit traditionellen, polnischen Werten nichts mehr zu tun.“ (Quelle: neues deutschland)

Damit bringt er es ganz unverhohlen auf den Punkt: Es geht darum, sich nicht ändern zu müssen. Und noch mehr: Es geht darum, sich nicht eingestehen zu müssen, falsch gehandelt zu haben. Es ist das Einfordern eines Rechts auf Arschlochsein, einzig mit der Argumentation, man habe das immer sein dürfen. Gar wird dem Ganzen eine Natürlichkeit zugesprochen: Da ebenso verbreitet ist, Nationen und „Volk“ seien etwas Natürliches, sucht man dadurch die Rechtfertigung und das Totschlagargument. Fleischfressen sei Tradition, Kohlestrom eine Frage von Ehrung der Vorfahren, Autofahren ein Menschenrecht und Kultur ein starrer Monolith. Weil: isso! Wer da mit Fakten nachhakt, kann nicht mehr überzeugen, wie will man gegen „das ist bei uns so“ anreden? 

 

Die Quelle des Irrsinns

Es fällt vor allem auf, dass es weiße, westliche Männer sind, die nun die große Angst haben. Letztens schrieb mir einer, Frauen würden die Vorfälle von Köln nun zur Unterdrückung missbrauchen. Ich habe mir nach kurzer Ungläubigkeit vorgestellt, wie da jemand ähnlich wie ich vor seinem PC sitzt und mit voller Überzeugung sein Leid von der großen Unterdrückung durch Frauen klagt. Das sind dieselben Leute, die sich nicht erklären können, warum Menschen, denen alles genommen wurde, deren Familienmitglieder gefoltert, vergewaltigt und/oder ermordet wurden, flüchten oder gar Vergeltung ausüben wollen.

Wie passt das zusammen? Warum wird so wenig über Zusammenhänge nachgedacht und andere konstruiert? Warum haben wir in letzter Zeit so viele Grundgesetz-Experten, die sich penibelst genau im Asylrecht und Dublin-Abkommen auskennen? Die Antwort ist leider recht einfach und dennoch erschreckend: Sie wollen keine Veränderung. Ob sich nun vor allem sozial Benachteiligte fürchten, weil sie bisher noch immer bluten mussten, wann immer Deutschland in den letzten 25 Jahren in einer Krise war, ist eine andere Debatte. Fakt ist: Sie wollen das Fremde nicht und ihnen ist jedes Mittel recht, das zu begründen. Und da man gerade dabei ist, versucht man auch noch jede Uhr zurückzustellen, welche spätestens seit den 68ern angestoßen wurde. Es ist die Aufklärung selbst, die durch Verklärung dieser Tage ihren größten Angriff seit den 1930er-Jahren ausgesetzt ist.

Seit über einem Jahr praktiziert man das nun schon im Bereich der Online-Kommentare und es haben sich verschiedene Strategien für die Asylgegner als erfolgreich erwiesen. Diese werden immer wieder aufs Neue wiederholt und gegenseitig „geliket“, also für gutgeheißen. Diese Reproduktion der immer selben Fehler führt unweigerlich dazu, dass sie irgendwann als richtig empfunden werden. Und deswegen möchte ich heute zum Online-Widerstand aufrufen.

 

Die soziale Erwünschtheit fällt weg

In der Politikwissenschaft gibt es so etwas, das nennen wir „soziale Erwünschtheit“. Die Empirie, also grob gesagt das Erheben von Daten, ist ein wesentlicher Aspekt der Politikwissenschaft und soll Thesen mit Fakten gegenüberstellen – und im besten Falle beweisen. Da bekannteste Instrument ist die Umfrage. Doch alle Politikwissenschaftler sind sich bewusst, dass niemand zur absoluten Gewissheit selbst im anonymisiertesten Test wirklich angibt, was er denkt. Vielmehr kommt es recht oft dazu, dass gesagt wird, was jemand glaubt, dass er es sagen soll. Bei Umfragen über Meinungen kommt hinzu, dass er seine Meinung vielleicht als nicht vorzeigbar einschätzt – und deshalb lieber lügt. Er sagt das, was er für sozial erwünscht hält.

Diese soziale Erwünschtheit war es wohl, die uns all die Jahre hat glauben lassen, wir sind ein offenes, internationalistisches, liberales und freundliches Land. Wir sind erschrocken, ob der Aussagen um uns herum. Doch mittlerweile meinte jemand letztens in der U-Bahn laut sagen zu müssen: „Dann sollen die diese ganzen Schmarotzer hier nicht rein lassen“. Noch vor drei Jahren hätte er wohl gedacht, er sei der Einzige der so denkt und hätte lieber geschwiegen. Aber er fühlte sich ermuntert und schimpfte gleich noch gegen Hartz-IV-Empfänger und Silvester. Und er hätte gerne die DDR wieder, aber noch lieber Adolf. Gott, was wünsche ich mir die soziale Erwünschtheit zurück, wenigstens übergangsweise.

 

Was zu tun ist

Ich will damit unterstreichen, wie gefährlich es ist, wenn sich der Unfug unwidersprochen unentwegt verbreitet. Wenn der gesunde Menschenverstand immer wieder zurücksteckt. Denn wie hieß es so schön auf einer Postkarte: Wenn der Kluge immer nachgibt, handelt am Ende der Dumme. Wir dürfen das nicht zulassen! Lasst die nicht allein, die um euch herum streiten für Nachdenken und ein Überwinden von Vorurteilen. Schnappen Sie sich eins, zwei Foren (mehr müssen es gar nicht sein) fünfzehn Minuten am Tag, sei es etwa der RBB auf Facebook oder die Kommentarspalte der MOZ auf deren Seite und schreiben Sie an gegen den Irrsinn.

Sie werden wohl kaum jemanden bekehren, aber zeigen wir doch wenigstens, dass es nicht richtiger dadurch wird, dass es permanent und unwidersprochen wiederholt wird. Was glauben Sie, wie man sich freut, wenn man nicht alleine ist, weil alle anderen abwinken und sich sagen „bei denen lohnt es sich nicht“. Sie tuen also auch was für Ihre Gleichgesinnten. Es braucht diesen Widerstand auch im Netz und auch in der U-Bahn, denn sonst werden es dort bald wohl auch mehr.

 

Für das Zuhören

Viele Menschen sind verunsichert. Sie trauen Medien nicht, sie trauen Studien nicht, sie trauen niemandem mehr. Sie halten alles für eine „grün-links-versiffte“ Verschwörung aller gegen sie. Sie proben den Aufstand des kleinen Mannes und glauben in der Aufklärung ihren Feind gefunden zu haben und nicht etwa im Kapital. Ein Pegida-Demonstrant sagte mal in die Kamera: „Ich glaube mir nur meine eigene Meinung.“ Lassen wir es dazu bloß nicht kommen! Helfen wir uns gegenseitig. Leisten wir Widerstand. Und da ich heute eine Nelke auf sein Grab legte, ergänze ich Karl Liebknechts: Trotz alledem!


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