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Kommentar zum 60. Jahrestag der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges gründeten sich in der BRD viele Vereine von Flüchtlingen und Vertriebenen, die sich zu Landesverbänden und zu einem Zentralverband vertriebener Deutscher zusammenschlossen. 1950 betrug der Anteil von Flüchtlingen und Vertriebenen an der Bevölkerung der BRD 16,5 Prozent.

Am 05. August 1950 wurde in Cannstadt bei Stuttgart in Anwesenheit von Mitgliedern der ersten Bundesregierung (Adenauer, CDU), der Kirchen und der Landesparlamente eine Urkunde publiziert, die sich „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ nannte.

Sie nennt „Pflichten und Rechte“ der Flüchtlinge und Vertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1949 die deutschen Ostgebiete und andere Länder Ost- und Südosteuropas verlassen mussten. Unter diesen Rechten und Pflichten wird vor allem der Verzicht auf Rache und Vergeltung für die Vertreibung genannt, das Schaffen eines geeinten Europas und die Beteiligung am Wiederaufbau Deutschlands und Europas. Darüber hinaus wird ein „Recht auf Heimat“ postuliert, das ein von „Gott geschenktes Grundrecht der Menschheit“ sei, und seine Verwirklichung gefordert.

Im November 1951, bildete der Zentralverband zusammen mit den Landsmannschaften der Sudetendeutschen und Schlesier den Bund der Vertriebenen (BdV), der die Charta unverändert übernahm. Die Charta ist bis heute die „Wertegrundlage“ des BdV.

Von bundesdeutschen Politikern wurde und wird immer wieder der historische Beitrag dieser Charta zur Aussöhnung hervorgehoben. (Schily, Kohl, Schäuble, Lammert).

Doch die Charta ist ein klassisches Beispiel historischer Unterschlagungen. Jegliche Kausalität zwischen Ursache und Wirkung wird abgeschnitten, die Chronologie der Ereignisse und die Vorgeschichte der Vertreibung ignoriert.

Dazu schreibt der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik:
Der Satz der Charta, „die Volker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden,“ behauptet, dass die Heimatvertriebenen am schwersten betroffen gewesen seien, noch vor den ermordeten Juden, noch vor den Verfolgten in Polen und Russland und noch vor den deutschen Kriegswaisen und -witwen.

In der Charta kommt die „Verleugnung und Verdrängung des Nationalsozialismus in geradezu idealtypischer Weise zum Ausdruck.“. Dass die Charta in ihrer Eröffnungssequenz scheinbar großzügig auf Rache und Vergeltung „verzichte“, sei eine Ungeheuerlichkeit. Verzichten kann man nur auf das, was einem rechtens zusteht. Die Charta postuliert einen grundsätzlichen Anspruch auf Rache und Vergeltung.

Etwa ein Drittel der Erstunterzeichner der Charta waren überzeugte Nationalsozialisten. Bei diesen handelte es sich vor allem um Funktionäre, die bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im sogenannten „Volkstumskampf“ tätig gewesen sind.

Der Schriftsteller Ralph Giordano schreibt in seinem Buch „Die zweite Schuld oder die Last Deutscher zu sein“: Spätestens bei der Beschwörung .“..an das unendliche Leid..“ wäre das Bekenntnis gegen den Nationalsozialismus und Hitlerdeutschland fällig gewesen. Aber nichts davon steht in der Charta.

Kein Wort zu Hitler und seinen Nächsten, noch zum Kollektiv seiner verschworenen Anhängerschaft, noch zur überdurchschnittlich hohen Zustimmung für das Dritte Reich gerade aus der ostdeutschen Bevölkerung (nicht zu verwechseln mit der ehemaligen DDR).

Kein Wort über das ausgemordete Polen, über die unermesslichen Opfer des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belzec u.a., die grausamen Stätten des verwaltungsmäßig betriebenen Massenmordes, bleiben aussen vor.

Die Charta unterschlägt, dass es im von den Deutschen besetzten Europa zu Massenvertreibungen von Millionen Menschen, zu ganzen Völkerwanderungen unter unsäglichen Bedingungen gekommen war. Und das lange bevor auch nur ein einziger Deutscher aus dem Osten vertrieben wurde.

Kein Wort in der Charta zur Abstempelung eines ganzen Volkes zu „Untermenschen“, zur „Eindeutschung“, zur „Polen- und Juden-Freimachung“ riesiger Gebiete.

Die Charta ist ein Dokument deutscher Anmassung, denn sie rückt die Opfernationen Osteuropas in die Position von Schuldnern, die Täternation in die Position eines Gläubigers von Grossmut und Verzeihen.

Die Charta ist eine im Geist von Selbstmitleid und Geschichtsklitterung getragene, ständestaatliche, völkisch-politische Gründungsurkunde.

Ihr 60-jähriger Geist lebt heute noch und findet seine Anhänger.

So sagt Arnold Tölg, geb. 1934, BdV-Präsidiumsmitglied und stellvertretendes Mitglied des Stiftungsrates Flucht, Vertreibung, Versöhnung, in einem Interview am 3.8.2010 in dradio.de:

Da bin ich der Meinung, dass der Krieg natürlich - der von Hitler ausgelöste Krieg - den Ländern, die die Deutschen vertrieben haben, eine Chance gegeben hat, die Deutschen loszuwerden. Es war ja ein von Polen und auch teilweise Tschechien, ein langfristiger Plan, schon 1848 wollte man die Linie Stettin-Triest herstellen. Also, da sind Dinge zusammengekommen: Auf der einen Seite war das der Krieg Hitlers, der Schreckliches in diesen Ländern angerichtet hat; auf der anderen Seite kam es auch der polnischen und wohl auch tschechischen Politik entgegen, siehe Londoner Exilregierung, die sich intensiv darum bemüht hat, die deutschen Ostgebiete in die Hand zu bekommen, sodass hier durchaus auch Schuld auf der anderen Seite zu sehen ist. Denn Polen hätte sich auch einmal überlegen müssen, was es bedeutet .Zum Beispiel, ich war gerade in Schlesien, da fährt man hunderte Kilometer durch ein Land, ein wunderbares Land mit großen Städten und Dörfern und muss sich dann vorstellen, dass all diese Menschen, die hier Jahrhunderte lebten, auf grausame Weise rausgeworfen wurden. Also, das war ein Verbrechen und da kann man nichts dran deuteln. Ich bin ja selbst betroffen gewesen.

Nur eine förmliche Aufhebung der heute noch in Kraft stehenden Charta und des „Grundgesetzes“ der Vertriebenenverbände würde den angeblichen Gesinnungswandel des Bundes der Vertrieben und der heutigen politischen Klasse und die vorbehaltlose Bekennung zur Schuld der Deutschen für die Existenz und die Folgen des Naziregimes glaubwürdig machen.

Heinz Scharf


Quellen:

Mischa Brumlik, geb. 1947, ist seit 2000 Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt „Theorie der Erziehung und Bildung“. Brumlik ist Mitherausgeber der politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik und des Periodikums Babylon - Beiträge zur jüdischen Gegenwart. Er war Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag.

Ralph Giordano, geb. 1923 in Hamburg, ist deutscher Journalist, Schriftsteller und Regisseur. Bundesverdienstkreuz 1990, Siebenpfeiffer-Preis 1994, Schubart-Literaturpreis 1995, Hermann-Sinsheimer-Preis 2001, Leo-Baeck-Preis 2003, den Rheinischen Literaturpreis 2006. Großes Bundesverdienstkreuz 2009.

http://www.dradio.de/

Deutschlandfunk / Interview - 03.08.2010, Arnold Tölg und Peter Steinbach im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann.

Charta der deutschen Heimatvertriebenen



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