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Groß gegen die "Kleinen"

Eine große Koalition gegen die »kleinen Leute« wird die nächsten Jahre regieren. Herr Merz von der CDU meinte, der Koalitionsvertrag sei viel zu sozialdemokratisch. So unterschiedlich können Vorstellungen von sozialdemokratischer Tradition sein – ich erkenne sie kaum.

Zwar stammen die Agenda 2010 und Hartz IV von der SPD, sie sind aber nicht sozialdemokratisch. Sie werden fortgesetzt und verschärft. Von besonders negativer Bedeutung, wirtschaftlich und sozial, ist die Steigerung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent. Die Mehrwertsteuer trifft alle: Arbeitnehmer, Arbeitslose, Rentner, Besserverdienende. Letzte stört die Anhebung kaum, für andere kann sie eine Vertiefung von Armut bedeuten. Es gibt keinen Ausgleich, weder für Arbeitslose noch für Rentner. Hinzu kommt die Unglaubwürdigkeit von Politik. Denn die SPD hat gegen diese so genannte Merkelsteuer im Wahlkampf zentral gekämpft. Sie hat überzeugend begründet, weshalb sie völlig falsch wäre. Die Union forderte damals zwei Prozent. Ein Kompromiss hätte in einem Prozent bestehen können, aber niemals in drei Prozent. Hier ist ein Wahlversprechen auf schlimme Art und Weise gebrochen worden. Dass die Delegierten des SPD-Parteitages dem zu fast 100 Prozent zustimmten, sagt viel über den gegenwärtigen Zustand der Partei.

Herausgestellt wird die Reichensteuer. Menschen, die im Jahr mehr als 250 Tausend Euro verdienen, sollen für den Mehrbetrag drei Prozent mehr Einkommensteuer bezahlen. Bei Verheirateten gilt das, wenn sie zusammen mehr als 500 Tausend Euro verdienen. Abgesehen davon, dass es sich um eine relativ kleine Gruppe handelt und dass kein nennenswerter Betrag dadurch zustande kommt, müsste nach einem solchen Kriterium Helmut Kohl ein Supersozialdemokrat gewesen sein. Denn unter ihm mussten Leute, die mehr als 60 Tausend Euro verdienten, für den Mehrbetrag 53 Prozent Einkommensteuer bezahlen. Dank der SPD ist dieser Steuersatz um 11 Prozent auf 42 Prozent gesenkt worden. Wenn nun jemand für den Betrag, der über 250 bzw. 500 Tausend Euro im Jahr liegt, 45 Prozent zahlen muss, liegt das nach wie vor weit unter dem Satz, der unter der Kohl-Regierung galt.

Beim Arbeitslosengeld gibt es eine positive Vereinbarung, nämlich die Angleichung des ohnehin unsozialen ALG II Ost an West, allerdings ohne Benennung eines Zeitpunktes. Die Angleichung müsste rückwirkend erfolgen, denn es gab den vermuteten Preisunterschied schon am 1. Januar 2005 nicht. Insgesamt sollen aber die Mittel für Arbeitslose gekürzt werden, insbesondere bei Jüngeren. Es sollen die Eltern für Kinder bis zum 25. Lebensjahr haften, obwohl das Grundgesetz sie ab dem 18. Lebensjahr als volljährig behandelt. Es werden Zwangsabhängigkeiten organisiert. Antisozialdemokratisch ist es auch, den Kündigungsschutz weiter einzuschränken, und antisozialdemokratisch sind Nullrunden für Rentner und anderes mehr.
Die Unternehmenssteuerreform, die Reform des Gesundheitswesens wurden verschoben. Erforderliche Reformen bei der Rente und den Lohnnebenkosten sind nicht vereinbart.

Sozialdemokratische Ziele waren einmal Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit. Das aber strahlt der Koalitionsvertrag nicht aus. Im Gegenteil, es bleibt bei der Einschränkung von Rechten und beim Sozialabbau. Es bleibt bei der zu geringen Besteuerung von Reichen und Kapitalgesellschaften. Dem Staat fehlen durch letzteres Einnahmen, womit er den Sozialabbau begründet. Die Richtung ist antisozialdemokratisch. Deshalb wird sich die große Koalition auf einen deutlichen Protest und Widerstand vieler Menschen – darunter auch der Linkspartei.PDS – einstellen müssen.

Neues Deutschland vom 19./20.11.2005, S. 1, Gastkolumne

Gregor Gysi